
Gironcourt sur Vraine


















Um 1900 verfügte die Belegschaft der Glasfabriken in den Vogesen über ein hohes Mass an Fachwissen und Spezialisierung. Die Glasproduktion in dieser Region blickte auf eine Tradition zurück, die bis ins 18. Jahrhundert reichte, und basierte auf dem Know-how ganzer Familiengenerationen. Erfahrene Glasbläser, Graveure und Schleifer – viele von ihnen in der Glasherstellung aufgewachsen – kombinierten überliefertes Handwerksgeschick mit einer fundierten Ausbildung vor Ort. So entstanden in den Betrieben rund um Gironcourt nicht nur kunstvolle, sondern auch technisch anspruchsvolle Glaswaren von höchster Qualität.
In abgelegenen Regionen wie den Vogesen, wo viele Glashütten in ländlichen Gegenden lagen, war die Anwerbung und Bindung gut ausgebildeter Arbeitskräfte eine zentrale Herausforderung für die Fabrikbesitzer. Um qualifizierte Arbeiter langfristig an den Betrieb zu binden, errichteten viele Unternehmen eigene Arbeitersiedlungen - so auch in Gironcourt. Zum einen bot die Siedlung in Gironcourt den Arbeitern und ihren Familie Wohnraum in unmittelbarer Nähe zur Fabrik, zum anderen stärkten sie die soziale Kontrolle und Bindung an das Unternehmen. Zudem sollte der Gang des Arbeiters ins Wirtshaus unterbunden werden. Der Arbeiter könnte dort politische Reden hören, aktiv werden und sich gegen seinen Arbeitgeber auflehen. Ein schönes Heim könnte ihn davon abhalten.


Die Reihenhäuser von Gironcourt, solide errichtet und auf Funktionalität ausgelegt, waren mit kleinen Gärten ausgestattet, ein charakteristisches Merkmal von Arbeitersiedlungen jener Zeit. Diese sechs Reihenhäuser dienten vermutlich zur Unterbringung ungelernter Arbeiter, während qualifizierte Arbeitskräfte in dem geräumigeren Vierfamilienhaus wohnten. Dieses Gebäude ermöglichte die Unterbringung mehrerer Familien ohne beengte Verhältnisse und bot durch separate Eingänge und kleine Gärten auf jeder Seite ein gewisses Mass an Privatsphäre. Die hierarchische Struktur der Siedlung manifestierte sich in der unmittelbaren Nähe des Vierfamilienhauses zur Direktorenvilla. Ergänzend zu den Wohnhäusern umfasste die Siedlung auch eine Konsumgenossenschaft, eine Schule, ein Kino und andere soziale Einrichtungen. In dem Gebäude mit der Bezeichnung "l'Economie" wurden Güter des täglichen Bedarfs zu vergünstigten Konditionen angeboten, um die Kaufkraft der Arbeiter zu erhöhen und ihre Bindung an das Unternehmen zu festigen.
Heute gehören die Arbeiterhäuser grösstenteils nicht mehr Owens-Illinois, dem heutigen Eigentümer der Glasfabrik, sondern den Privatpersonen in den Häusern. Einige einst betriebsnahe Gebäude, darunter das Haus des stellvertretenden Direktors, sind dem Verfall preisgegeben, andere, wie die Direktorenvilla, bereits abgerissen.
Der Bau dieser Siedlung verfolgte das Ziel, ein stabiles, verlässliches Umfeld für eine hochqualifizierte Belegschaft zu schaffen. Indem die Unternehmer in Lebensraum und soziale Infrastruktur investierten, förderten sie sowohl Produktivität als auch Loyalität. Damit steht die Arbeitersiedlung von Gironcourt exemplarisch für das Zusammenwirken von industrieller Effizienz und sozialer Fürsorge, das viele traditionsreiche Unternehmen um die Jahrhundertwende kennzeichnete.
Ein starker Zusammenhalt prägte den Alltag: Bei Krankheit half man sich gegenseitig mit Wäsche- und Gartenpflege, und zur Absicherung bei Erwerbsausfall unterhielten viele Arbeiter eigene Krankenkassen auf Gegenseitigkeit. Regelmässige Beiträge sicherten im Krankheits- oder Unfallfall finanzielle Unterstützung und Sachleistungen. Auch die Firmenleitung unterstützte im Krankheitsfall, indem sie Medikamente kostenlos bereitstellte – ein Ausdruck des paternalistischen Fürsorgegedankens jener Zeit.



